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«Wir müssen sichere Räume für mutige Gespräche schaffen»
04.09.2025 Brendan McCormack, führender Experte für personenzentrierte Versorgung, erklärt im Interview, warum Personenzentrierung mehr ist als ein Schlagwort, wie «Healthful Cultures» entstehen und weshalb nicht der Fachkräftemangel, sondern die fehlenden guten Arbeitsplätze das Kernproblem im Gesundheitswesen sind.

Das Wichtigste in Kürze
- Personenzentrierte Versorgung stellt nicht nur Patient*innen, sondern auch die Mitarbeitenden im Gesundheitswesen in den Mittelpunkt.
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«Healthful Cultures» schaffen ein Umfeld, in dem Menschen respektiert, gestärkt und in ihrer Entwicklung unterstützt werden.
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Das zentrale Problem ist weniger ein globaler Fachkräftemangel, sondern das Fehlen attraktiver Arbeitsplätze im Gesundheitswesen.
Herr McCormack, was ist personenzentrierte Versorgung und warum brauchen wir sie?
Unsere Gesundheitssysteme sind im Allgemeinen nach einem industriellen Modell aufgebaut. Das heisst, sie sollen finanziell möglichst effizient funktionieren. Doch in diesem industriellen Gesundheitssystem können Patient*innen als Personen aus dem Blick geraten. Ein personenzentrierter Ansatz stellt daher die Person in den Mittelpunkt der Entscheidungsfindung, ohne die Kosteneffizienz aus den Augen zu lassen.
Was ist das «Person-centred Practice Framework»?
Das «Person-centred Practice Framework» wurde von mir und meiner Kollegin Tanya McCance entwickelt. Es hat sich von einem pflegespezifischen Konzept zu einem multidisziplinären Ansatz für alle Gesundheitsberufe weiterentwickelt. Beim Thema Personenzentriertheit liegt der Fokus häufig auf Patient*innen und ihren Bedürfnissen. Wir betonen, dass Pflegende und andere Gesundheitsfachpersonen diese Werte auch selbst erfahren müssen, um sie weiterzugeben. Darauf aufbauend haben wir ein Rahmenkonzept entworfen, welches das gesamte System der Gesundheitsversorgung berücksichtigt. Es geht darum, «Healthful Cultures» zu entwickeln – in Bezug auf die Patient*innen ebenso wie in der Zusammenarbeit von Fachleuten und Teams.

Was sind «Healthful Cultures»?
«Healthful Cultures» sind Kulturen, die Menschen stärken. Sie respektieren alle als Personen, achten ihre Autonomie und sorgen dafür, dass Zusammenarbeit in einem evidenzbasierten, wirksamen und transformierenden Umfeld stattfindet. So entsteht ein Raum, in dem Menschen wachsen, sich entwickeln und aufblühen können.
Das klingt schön und gut. Aber können wir uns eine solche Kultur in einem chronisch unterfinanzierten Gesundheitssystem überhaupt leisten?
Die grössten Kosten im Gesundheitswesen sind Personalkosten. Wenn wir «Healthful Cultures» schaffen, in denen Mitarbeitende bleiben wollen, ihr Bestes geben und durch ihre Arbeit motiviert sind, sparen wir erhebliche Kosten. Wir müssen weniger auf temporäres Personal zurückgreifen und weniger oft aufwändige Rekrutierungs- und Einarbeitungsprozesse durchlaufen. Ich argumentiere seit vielen Jahren, dass wir nicht nur über einen globalen Fachkräftemangel sprechen sollten, sondern über einen Mangel an attraktiven Arbeitsplätzen im Gesundheitswesen. Diese kulturellen Fragen müssen wir angehen, wenn wir Mitarbeitende halten und die besten Fachpersonen gewinnen wollen.
Was sind die grössten Herausforderungen der personenzentrierten Versorgung?
Eine der grössten Herausforderungen ist, dass wir uns als Mitarbeitende im Gesundheitswesen oft angegriffen fühlen, wenn es um unsere eigene Personenzentriertheit geht. Natürlich ist es unsere Absicht, personenzentriert zu arbeiten, aber komplexe Systeme ermöglichen das nicht immer. Wir brauchen Organisationen, Teams und Führungskräfte, die verstehen, dass Personenzentrierung ein ständiger Entwicklungsprozess ist. Dafür müssen wir sichere Räume für mutige Gespräche schaffen, in denen Menschen ehrlich über ihre Alltagserfahrungen sprechen können. Unser Modell kann dabei helfen.
Zur Person

Prof. Dr. Brendan McCormack ist ein international führender Experte für personenzentrierte Pflege und Versorgung. Er hat massgeblich zur Entwicklung des Person-centred Practice Framework beigetragen und sich über Jahrzehnte hinweg mit Fragen der Pflegepraxis, der Kulturentwicklung im Gesundheitswesen und der Förderung von Personenzentrierung in interprofessionellen Teams beschäftigt. Der gebürtige Ire leitet die Susan Wakil School of Nursing and Midwifery und ist Dekan der Faculty of Medicine and Health an der University of Sydney. Zudem ist er regelmässig Gast am Departement Gesundheit der BFH.
Personzentrierte Gesundheitsversorgung – Vision oder Realität?
Personzentrierte Versorgung stellt die individuellen Bedürfnisse, Werte und Lebensumstände der Patient*innen ins Zentrum medizinischer Entscheidungen. Sie gilt als Schlüssel zu einer menschlicheren, wirksameren und nachhaltigeren Gesundheitsversorgung, doch der Weg dorthin ist komplex. Zwischen Idealbild und Alltagspraxis gilt es, Chancen und Hürden realistisch abzuwägen: Wie lassen sich Strukturen, Abläufe und Haltungen verändern, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen? Unsere Beiträge zeigen anhand konkreter Projekte, wo dies bereits gelingt, welche Stolpersteine es noch zu überwinden gilt und welche Schritte nötig sind, um Person-centered Care im Gesundheitswesen zu verankern.