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Mehr Miteinander im Berner Westen – dank vielfältiger Aktionen

18.07.2025 Beteiligung und lebendige Gemeinschaft statt anonymem Nebeneinander. Mit kreativen und künstlerischen Ansätzen stärkt ein Projekt der BFH den Dialog und das Engagement in Bümpliz, und Bethlehem.

Das Wichtigste in Kürze

  • Ein Forschungsprojekt der BFH hat neue Wege erprobt, Bewohner*innen die Teilnahme an Projekten der Quartierentwicklung zu erleichtern. 

  • Wichtiger Bestandteil dabei sind künstlerische Interventionen. Diese können beispielsweise helfen, wenn Sprachkenntnisse fehlen. 

  • Das Projekt hat nachhaltige Wirkung, wie ein Augenschein im Berner Untermatt-Quartier zeigt. 

Eingerahmt von Hauptstrassen und Bahngleisen, ein Mix von in die Jahre gekommenen Wohnblöcken und Gewerbeflächen, dazu wenig Geschäfte und kaum Möglichkeiten zum Spielen und für Begegnung: Nein, die Untermatt gehört nicht zu Berns schicksten Quartieren. Auch das sozialräumliche Monitoring der Stadt Bern zeigt: der höchste Ausländeranteil und die höchste Sozialhilfequote finden sich in diesem Quartier im Berner Westen. 

Doch es tut sich etwas hinter der unscheinbaren Fassade. Im Quartierzentrum Untermatt sitzt Zentrumsleiterin Stephanie Schär mit Kowsar Abdulkadir am Tisch. Die gelernte Fachfrau Betreuung und Mutter mit somalischen Wurzeln ist für die Sozialarbeiterin Schär eine Schlüsselperson im Quartier. Das heisst, sie beteiligt sich an Projekten, unterstützt Quartierbewohnende und bildet Brücken auch über Sprachbarrieren hinweg.

Zentrumsleiterin Stephanie Schär mit Kowsar Abdulkadir
Zentrumsleiterin Stephanie Schär mit Kowsar Abdulkadir

Angebote für ein heterogenes Quartier

«Ich bin beim Spielplatz vor meiner Wohnung einmal zum Quartierznacht, als dieses Projekt startete», erinnert sich Kowsar Abdulkadir an die Anfänge, «einfach mal zum Schauen, und dort habe ich Stephanie getroffen.» Dass sie in Kontakt mit der Quartierarbeit kam, ist jedoch nicht nur ihrer Offenheit und ihrem Interesse zu verdanken, sondern auch einem Forschungsprojekt der Berner Fachhochschule BFH. Denn das Quartierznacht war eine von mehreren so genannten Interventionen, die von der Hochschule begleitet wurden und die es den Bewohnenden erleichtern sollten, sich am Quartierleben zu beteiligen. Offensichtlich mit Erfolg: «Ich habe davor acht Jahre in der Wohnung gewohnt, bin aber noch nie zum Spielplatz», erzählt Kowsar Abdulkadir. 

«In Bern West gibt es für die heterogene Bevölkerung schon viele soziokulturelle Angebote», erklärt Simone Gäumann, Projektleiterin bei der BFH. «Viele davon erreichen die Quartierbevölkerung aber nur unzureichend. Zum Beispiel, weil sie vom Angebot her gedacht sind, oder nur auf eine bestimme Gruppe fokussieren.» Die Folge: wichtige Perspektiven und Erfahrungen fliessen nicht ein, wenn das Zusammenleben gestaltet wird. Dies sei ein Problem, denn die Lebensqualität der Menschen hänge massgeblich davon ab, ob sie auf ihre Wohnumgebung Einfluss nehmen können. 

Ich bin beim Spielplatz vor meiner Wohnung einmal zum Quartierznacht, als dieses Projekt startete. Einfach mal zum Schauen, und dort habe ich Stephanie getroffen.

  • Kowsar Abdulkadir

Beteiligungsmöglichkeiten schaffen

Das Projekt «Vielfältiges Quartier für alle» wollte deshalb gezielt Beteiligungsmöglichkeiten für Personen schaffen, die sich bis anhin nur schwer einbringen könnten, z.B. weil sie hohe Arbeitspensen haben oder aufgrund von Sprachbarrieren. Das Besondere: dabei kamen auch künstlerische Methoden zum Einsatz. Neben dem BFH-Departement Soziale Arbeit war das Departement Hochschule der Künste Bern beteiligt. 

«Solche künstlerischen Methoden sind ansprechend und niederschwellig, weil sie nicht unbedingt auf Sprache basieren», erläutert Simone Gäumann, «sie rufen dadurch eine vielfältige Resonanz hervor, schaffen Raum für Dialog und Gemeinschaft», so die Sozialwissenschaftlerin. Eindrücklich zeigte dies die Auftaktintervention im benachbarten Tscharnergut. Das dortige Glockenspiel ist ein wichtiges kulturelles Symbol des Stadtteils. Bis anhin waren dort vor allem traditionelle Schweizer Melodien zu hören. Neu zählt das Liederrepertoire zahlreiche andere Melodien, z.B. aus Herkunftsländern der Quartierbewohnenden. Diese wiederum fühlen sich in ihrer Vielfalt besser gesehen und dem Quartier zugehörig. Der Austausch über die gehörten Melodien verstärkt den Dialog im Quartier. 

Projekt «Vielfältiges Quartier für alle»

Zwischen Januar 2023 und März 2025 entwickelten Forschende des Departements Soziale Arbeit und der Hochschule der Künste Bern gemeinsam mit Fachpersonen aus der Quartierarbeit, Schlüsselpersonen und Menschen aus Quartieren im Berner Westen neue Beteiligungsformen für die Quartierentwicklung. Ziel des Reallabors war es, Menschen zu erreichen, die z.B. wegen Sprachbarrieren oder hohen Arbeitspensen typischerweise keinen Zugang zu solchen Prozessen finden. Eine besondere Rolle spielten dabei künstlerische Interventionen.  

Kreative Ansätze, künstlerische Methoden

Bei anderen Interventionen wurden auf kreative Weise Ideen für neue Begegnungsorte gesucht oder die Spielgruppen des Stadtteils präsentiert, die eine wichtige Rolle für den Zusammenhalt im Berner Westen spielen. Am Untermattfest fertigten Mitglieder der Arbeitsgruppe “Begegnung”, ein Zeichner und Forschende Porträts von Quartierbewohnenden an, die anschliessend ausgestellt wurden. Die Auswahl an lebensweltbezogenen Fragen und verschiedenen Portraitmöglichkeiten senkten die Hemmschwelle, sich zu zeigen und schufen Anknüpfungspunkte für Gespräche. «Die kreativen und künstlerischen Methoden ermöglichten einen neuen, auch sinnlichen und emotionalen Zugang, der unsere Arbeitsweise sinnvoll ergänzt und bereichert», erläutert Stephanie Schär, Zentrumsleiterin und Mitarbeiterin des Vereins Berner Gemeinwesenarbeit VBG. 

Das Teilhaben, die eigene Stimme einbringen, in der Arbeitsgruppe auch die Meinung derer vertreten, die nicht dabei sind, das war wichtig.

  • Kowsar Abdulkadir

Das Ganze geschah in einem partizipativen Ansatz, d.h. die Quartierbewohnenden wurden einbezogen und konnten die Aktionen mitentwickeln. «Das Teilhaben, die eigene Stimme einbringen, in der Arbeitsgruppe auch die Meinung derer vertreten, die nicht dabei sind, das war wichtig», betont Kowsar Abdulkadir, «das gibt den Bewohnenden das Gefühl, nicht von oben bestimmt zu sein. Die Aktionen wurden so gestaltet, dass sie für die Bewohnenden passten.» «Wen erreichen wir, wie erreichen wir die Leute, wer bestimmt, wann und wo die Aktionen stattfinden? Durch die Forschungsperspektive der BFH haben wir uns noch mehr Zeit genommen, dies zu hinterfragen», fasst Stephanie Schär zusammen. 

Nachhaltige Wirkung

Auch nach Projektabschluss entfaltet die Forschungsarbeit weiter Wirkung: Das Quartierznacht wird weitergeführt, die Arbeitsgruppe “Begegnung” arbeitet in neuer Aufstellung und mit verstärkter Sensibilität weiter. Quartiervereine aus der Nachbarschaft klopfen an und holen sich Know how und Inspiration in der Untermatt. Auch im Miteinander der Quartierbewohnenden ist etwas in Bewegung gekommen. 

Kowsar Abdulkadir und Stephanie Schär berichten von Menschen, die durch die Aktionen aus ihrer Anonymität herauskommen, sich begegnen und Vertrauen fassen. Auf der Strasse anfangen sich zu grüssen und Kontakte auch ausserhalb der eigenen Sprachcommunity pflegen. Die Verantwortung übernehmen für sich selbst und andere, sodass ein neues Miteinander im Quartier entsteht. Der Anlass dazu kann mitunter ganz einfach sein: «Ich habe einen Schlüssel gefunden, meine Katze ist entlaufen, kann mir jemand einen Lautsprecher leihen», nennt Kowas Abdulkadir Beispiele, wie im Quartierchat auf Whatsapp Nachbarschaftshilfe gelebt wird.  

Wenn Menschen spüren, dass sie sich einbringen können, dann leben sie nicht nur hier, dann fühlen sie sich daheim.

  • Stephanie Schär Zentrumsleiterin

«Wenn Menschen spüren, dass sie sich einbringen können, dann leben sie nicht nur hier, dann fühlen sie sich daheim. Sie nehmen ihr Leben in die Hand und machen sich auch weniger abhängig vom System», schildert Stephanie Schär die Wirkung. Hoffnungsvolle Vorzeichen also für das Quartier, das in den kommenden Jahren mit dem Areal Weyermannshaus West um bis zu 1'000 Wohnungen wachsen soll. Es tut sich etwas hinter der unscheinbaren Fassade, zwischen Bahngleisen und Hauptstrassen. 

Quartierzentrum Untermatt

Das Quartierzentrum Untermatt ist ein Treffpunkt im Quartier für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Das Zentrum ist Informations- und Anlaufstelle für die Quartierbewohnenden und hat Angebote wie einen Mittagstisch, eine Spielgruppe, Deutsch- und Computerkurse. Das Zentrum fördert die Freiwilligenarbeit und unterstützt Initiativen aus dem Quartier. Ziel ist, die Lebensqualität im Quartier zu verbessern. Das Quartierzentrum wird betrieben von der Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit VBG im Auftrag der Stadt Bern. 

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